Reto Rigassi

Das sinnlich-poetische Werk von Reto Rigassi (*1951), dem historische, soziale und geologische Recherchen zugrunde liegen, artikuliert sich in der Konzeptkunst, der Land Art, in Installationen, fotografischen und grafischen Arbeiten. Gemeinsam ist der Anwendung von verschiedenen Techniken die grosse Experimentierfreudigkeit. So lässt er den Zufall geologischer und klimatischer Prozesse in unterschiedliche, häufig zerbrechliche Materialien eingreifen. In der Landschaft erschaffene Werke überdauern in Fotografien und installativen Dokumentationen. Der Künstler schafft vielfältige Bezüge und Referenzen und lässt dadurch tiefgreifende Gegenüberstellungen von Mensch, Natur und Kosmos entstehen.

«Hexenträume» (Transmutationen), 2017

Absinth (Artemisia), Eiweiss und Glimmer (Pearl) auf Holz, 3 Platten, je 113 × 113 cm
Ort: Talstation

Reto Rigassi, «Hexenträume» (Transmutationen), 2017, Absinth (Artemisia), Eiweiss und Glimmer (Pearl) auf Holz, 3 Platten, je 113 × 113 cm, © 2017, ProLitteris, Zurich, Bild © Ralph Feiner

In den 1980er Jahren entdeckte Reto Rigassi (*1951) für sich die Einflüsse der Natur als künstlerisches Medium. Unter Einbezug von klimatischen Einwirkungen – Hitze, Licht, Wasser – schuf der Künstler an meist entfernten Orten flüchtige Installationen, die er fotografisch festhielt. Seine Werkgruppe für Arte Albigna spannt den Bogen über ein vielfältiges, Bezugsnetz, das nicht nur in der Natur, sondern auch in der Geschichte des Bergells verankert ist und gleichzeitig weit über lokale Grenzen hinaus Verbindungen schafft. Durch die Verwendung von Elementen aus der Natur fliesst der Zufall in alle Arbeiten mit ein.

Die erste Intervention befindet sich an der Talstation der ewz Seilbahn Albigna in Pranzaira. Die Drahtseilbahn, die 2016, wie auch die Tal- und Bergstation, neu errichtet wurde, entstand 1955 als Baustellenerschliessung und spätere Werkseilbahn für die Albigna-Staumauer. Hier, an diesem zentralen Ausgangspunkt innerhalb des umfangreichen Komplexes zur Gewinnung von Wasserkraft, thematisiert Reto Rigassi Gletscherwasser. Dieses fliesst von den Gletschern in den Stausee und über die Turbinen des Wasserkraftwerks in die Anlage von Löbbia, wo es Strom für rund 117’000 Haushalte produziert.

Reto Rigassis Triptychon an der Talstation besteht aus einer eigens produzierten Mischung aus Absinth, auch als «Gletscherwasser» bezeichnet, Eiweiss (ital. albume) und Glimmer, der an glitzernden Bergeller Granit erinnert. Diese hat der Künstler auf schwarzen Schaltafeln, wie sie auch für den Neubau der Bahnstationen verwendet wurden, ausgeschüttet. Aufgrund ihrer auf unterschiedliche Art und Weise Energie bringenden Eigenschaft werden Absinth und Gletscherwasser hier miteinander gleichgesetzt. Der Prozess des Ausschüttens als Teil des künstlerischen Schöpfungsaktes macht das Umwandlungspotenzial, das im Element Wasser vorhanden ist, sichtbar. Absinth wird aufgrund der meist grünlichen Farbe auch «die grüne Fee» genannt. Damit schafft der Künstler einen Bezug zur Hexengeschichte des Bergells, die auch in seinen anderen Interventionen eine Rolle spielt. Auch der in «Hexenträume» vollführten Verwandlung von Elementen aus der Welt der Pflanzen, der Tiere und der Mineralien mag etwas Magisches anmuten.

«Hexentränen 1» (Vicosoprano, «Bosc da Cudin»), 2017

Glas, geräuchert mit Birkenrinde und dem Regen ausgesetzt, 3 Platten, je 60 × 60 cm
Ort: Capanna da l’Albigna

«Hexentränen 1» (Vicosoprano, «Bosc da Cudin»), 2017; Glas, geräuchert mit Birkenrinde und dem Regen ausgesetzt, 3 Platten, je 60 × 60 cm; © 2017, ProLitteris, Zurich; Bild © Ralph Feiner

Während der Kleinen Eiszeit vom 15. bis 19. Jahrhundert haben die Gletscher aufgrund langer, kalter Winter und niederschlagsreicher Sommer an Grösse zugenommen. Obwohl das Klima für die weitere Ausdehnung der Gletscher nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst günstig blieb, schmolzen die Alpengletscher. Dies wird heute auf die Industrialisierung zurückgeführt: Der rasante Anstieg des Kohleverbrauchs führte zur Ansammlung von Russpartikeln in der Atmosphäre. Nachdem diese durch Niederschläge ausgewaschen worden waren, lagerte sich der Russ auf den Gletschern ab.

Ausgehend von dieser Kenntnis fand Reto Rigassi in seinen «Hexentränen» ein sinnträchtiges Ausdrucksmittel sowohl für die Weltproblematik der Gletscherschmelze als auch für die Geschichte des Bergells. Der Künstler setzte drei Glasplatten für eine eigens entwickelte Technik ein, ein an die Fotografie angelehntes optisches Verfahren. Wie bei der frühen Fotografie dient das Glas als Bildträger, als Fotoemulsion indes nutzte Rigassi den Russ einer Birkenrinde. Das eigenwillige Muster auf den Glasplatten entstand durch das Zutun der Natur im birkenhaltigen Wald von Cudin: durch Regen, der sich wie bei einem Negativ-Verfahren auf dem Bildträger einschrieb.

Mit dem Russ als zentralem Bestandteil der Arbeit verweist Rigassi nicht nur auf die Folgen des menschlichen Strebens, immer mehr von der Erde zu annektieren, sondern auch auf ein grausames Kapitel des Bergells, in dem mehrere Frauen als Hexen angeklagt, gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Auch der Russ von den Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen hat sich in den Gletscherschichten abgelagert und tritt durch die Schmelze wieder hervor. Der Künstler fokussiert auf geschichtliche als auch natürliche wiederkehrende Kreisläufe, insbesondere jene des Wassers, das zudem verschiedene Orte miteinander verbindet. So stehen die «Hexentränen» von Reto Rigassi nicht zuletzt auch mit seiner Intervention «Hexenträume» an der Talstation in Verbindung: Schmelz- und Regenwasser bilden schlussendlich, bevor sie in Löbbia eintreffen, eine Einheit.

«Hexentränen 2» (Albigna), 2017

«Topografische Karte», 74,7 × 56,3 cm
Inkjetdruck, 1/23–23/23
Inkjetdruck und 1 Farbe handkoloriert, 1/7–7/7
Ort: Capanna da l’Albigna

«Hexentränen 2» (Albigna), 2017; «Topografische Karte», 74,7 × 56,3 cm; Inkjetdruck, 1/23–23/23; Inkjetdruck, 1 Farbe handkoloriert, 1/7–7/7; © 2017, ProLitteris, Zurich; Bild © Ralph Feiner

«Schreie und Wehklagen – die Gletscher schmelzen. Steingeröll und schwarzer Russ tauchen hervor. Man hört eingefrorene Schreie und Klagen von Mensch und Natur. Zeugen schrecklicher Gewalt und Grausamkeit. Gestern wie heute sind wir alle verstrickt und eingezwängt: Herausbrechen eilt. Ein Traum? Eine Utopie?» (Reto Rigassi)

Für «Hexentränen 2» sammelte Reto Rigassi im Wald von Cudin Regentropfen auf Glas. Aus dem von der Glasplatte resultierenden Negativ kreierte er eine sogenannte Regenkarte. Wie Wanderkarten ist sie gefaltet und verzeichnet die wichtigsten geografischen Verortungspunkte: Auf Rigassis Karte sind dies das 1583 erbaute Gerichtsgebäude von Vicosoprano, wo im 17. Jahrhundert zahlreiche Hexenprozesse stattfanden, die Brücke San Cassiano, von der die Asche der auf dem Scheiterhaufen verbrannten Frauen in den Fluss Maira geschüttet wurde, und der Galgen im Wald von Cudin. Damit schafft der Künstler ein ausdrucksstarkes örtliches Bezugsnetz, das von der Geschichte durchdrungen ist. Rigassis Ansatz fokussiert auf der Symbiose der menschlichen Geschichte mit der Natur. Die Anwendung sowohl des Rasternetzes der Welt als auch jenes der Schweizer Koordinaten und der rund um das Bild angeführte, poetisch-betroffene Text machen deutlich, dass weder nur lokale noch nur vergangene Ereignisse gemeint sind.

«Hexenküsse» (Hab’s versucht), 2017

Gebäck aus Absinth, Eiweiss und Zucker

Reto Rigassi, «Hexenküsse» (Hab’s versucht), 2017 · Gebäck aus Absinth, Eiweiss und Zucker · © 2017, ProLitteris, Zurich · © Ralph Feiner

Der Entstehungsprozess von Reto Rigassis «Hexenküssen», einem Gebäck aus Absinth, Eiweiss und Zucker, ist vergleichbar mit demjenigen der «Hexenträume». Bei der dreidimensionalen Arbeit, den «Hexenküssen», dient der Wermutstropfen allerdings als Backzutat. Diese häufte Reto Rigassi zusammen mit Eiweiss und Zucker auf einem Backblech auf und liess die Vereinigung anschliessend durch die Hitze des Backofens Form annehmen.

Mit dem Titel «Hexenküsse» knüpft Rigassi an die Bezeichnung «La Stria» (die Hexe), ein Synonym für Absinth, an. Im einstigen Hauptort des Tals, Vicosoprano, fanden im 17. Jahrhundert mehrere Hexenprozesse statt. Die vermeintlichen Hexen wurden gefoltert und enthauptet, gehängt oder verbrannt. An die grausamen Geschehnisse erinnern noch heute die Pfeiler des Galgens am Dorfrand im Wald von Cudin. 1875 schrieb Giovanni Andrea Maurizio (1815–1885) das Theaterstück «La Stria». Die Tragikomödie im Bergeller Dialekt, die zuletzt 1979 aufgeführt wurde, endet damit, dass nach einer falschen Hexen Anschuldigung das Gute über das Böse Oberhand gewinnt.

Die ersten drei Resultate des bewusst als Versuch angesetzten Backvorgangs werden aufgrund ihrer Fragilität in massgefertigten Holzkassetten aufbewahrt. Denn: wie Gletscher können sie auseinanderbrechen und müssen geschützt werden. Mit den «Hexenküssen» knüpft Rigassi an die Tradition der Bergeller Zuckerbäcker an. Anhand einer sehr offen gefassten Anleitung des Künstlers bäckt die Castasegner Konditorin Ursula Fogliada während der Ausstellungszeit weitere Absinth-Zückerli, die in einigen Gastronomien des Tals zum Verkauf angeboten werden. So kann jeder kosten und sich von Rigassis «Hexenküssen» verzaubern lassen – die Rezeptur soll mit Süssem das Böse verschwinden lassen und Magisches heraufbeschwören. Der Untertitel «Hab’s versucht» deutet indes ein mögliches Scheitern des Einzelkämpfers an: Um die Gewalt unter Menschen und an der Natur zu bekämpfen, braucht es die Beteiligung aller. «Oder einen Superkuss … Wer weiss wie? Nur ein Traum und Utopie?» (Reto Rigassi)